Lieber Kater Paul
http://www.feline-senses.de/lieber-kater-paul.html

© 2012

Lieber Kater Paul ...

Katzen können nicht denken? Ich behaupte: sie können!
Gewiss, sie vermögen nicht so komplizierte Aufgaben lösen wie der Mensch, aber selbst Rückschlüsse in gewissen Grenzen kann ich nicht ausschließen!

Bevor ich darauf näher eingehe, lasst mich bitte kurz erzählen, wie ich zum Katzenfreund wurde. Selbstverständlich wusste ich bereits als Kind, DASS es Katzen gibt, nur hatte ich damals sehr viel mehr mit Hunden zu tun. Dazu möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich zu der bellenden Spezies einen ebenso guten Draht hatte, wie eigentlich zu fast allen Tieren. Beim Umgang mit Hunden ist es wichtig, nicht so zu TUN, als hätte man keine Angst, sondern keine Angst zu HABEN! Dieses Wissen half mir, später auch mit so genannten Problemkatzen klar zu kommen.

Wirkliche Erfahrungen mit Katzen konnte ich erst ab dem Alter von etwa 35 Jahren erlangen. Paul, ein schwarzweißes, in Freiheit geborenes Katerchen, wäre einbetoniert worden, hätte meine Frau ihn nicht packen und ihn in ein kleines WC ihrer Arbeitsstelle sperren können. Ich nahm eine Tasche aus stabilem Leder mit und holte Frau und Kater ab. Schon im Auto befasste sich Paul, wie wir den acht Monate alten Kater gleich tauften, ausgiebig mit dem Reißverschluss der Tasche. Oh, ja, er schaffte es, mit scharfen Krallen die Naht so weit zu öffnen, dass er tobend heraus schlüpfen konnte. Aber die Tasche war hoch genug ihn daran zu hindern, indem wir einfach die oberen Taschenränder umknickten.

Paul hasste Männer!
Er hatte mit seiner wilden (und daher sehr misstrauisch vorsichtigen) Mutter sowie einem Bruder unter einer Betonrampe 'gewohnt', deren Seiten zubetoniert werden sollten, wodurch der verbleibende Hohlraum unterhalb der Rampe zum Gefängnis geworden wäre. Männer hatten an diesem Ding Wochenlang mit Stemmwerkzeugen Lärm verursacht, also waren Männer böse! Dennoch hatte ich nichts dagegen einzuwenden, Paul bei uns aufzunehmen.

Im Gegensatz zu mir ist meine damalige Frau mit Katzen groß geworden. Sie wusste, was wir – nein, was Paul benötigte, um einigermaßen Artgerecht leben zu können.

Während der ersten Wochen sollte Paul im Badezimmer bleiben, um den Schock zu überwinden. Dann erweiterten wir sein neues Revier nach und nach jeweils um einen Raum, was in unsrer Wohnung gut zu praktizieren war.

Ein Kuriosum: meine Söhne durften sich Paul früher nähern als ich. Offenbar sah er in ihnen keine Erwachsenen Radaubrüder. Aber mit viel Geduld, Liebe und leisem Zureden mit tiefer, sonorer Stimme nährte ich mich ihm jeden Tag. So ließ er es bald zu, ihm im Sinne des Wortes meine Hand zu reichen.
Wow, wie blitzschnell er trotzdem manches Mal die Hand mit rotsaftigen Riefen versah, wenn er ohne Vorwarnung zuschlug. Nun, damit konnte ich leben, denn es reizte mich wirklich sehr, Paul als Freund zu gewinnen.

Die Bemühungen zahlten sich aus; detailliert muss ich das hier nicht beschreiben. Paul wurde jedenfalls allmählich bewusst, dass von mir keinerlei Gefahr ausging.

Nachdem er die Vorzüge der Zivilisation erkannt und angenommen hatte, unterließ Paul einiges seines wilden Gebarens. Er suchte sogar Schutz bei mir und meinem Kopfkissen, sobald es nachts zu regnen begann. Als er später geröntgt werden musste, kam er während der Wartezeit von selber zu mir auf den Schoß, kuschelte sich brummend an mich und 'spendete' mir vor lauter Aufregung Unmengen Haare. Dadurch erfuhr ich, dass Schnurren nicht zwangsläufig Wohlbefinden bedeutet. Der Tierarzt erklärte uns nämlich, dass auch Aufregung, Schmerz, sogar Angst zum Schnurren anregen können. Wahrhaftig fand ich das später bei mehreren anderen Kätzchen bestätigt.

Im Alter von sechs Jahren wurde Paulchen chronisch schwer krank. Ihm zweimal täglich die benötigten Tabletten einzugeben, war anfangs ein Drama. Hier nun bin ich geneigt zu sagen, dass Paul teils instinktiv, teils durch Gedanken lernte, dass ihm dieses bittere Zeug zu besserem Befinden gereichte. Es dauerte nicht lange, da nahm er die Medikamente problemlos ein. Im Laufe der Zeit ging das so weit, dass Paul des Morgens pünktlich mit einer Kralle Frauchens Nasenflügel anhob, um sie zu wecken, sofern sie nicht rechtzeitig wach war.

Eindeutig mit Denken verbunden waren Erlebnisse, die ich jetzt beschreibe.
Die Deckenleuchte in unserem Wohnzimmer hatte einen Lampenschirm aus Korbgeflecht. Brannte die Lampe wurden durch die Lücken des Geflechtes Lichtpunkte auf die Wände projiziert. Berührte jemand versehentlich den Schirm, bewegten sich diese Lichtpunkte wie schnell tanzende Sterne. Paulchen erregte das jedes Mal derart, dass er wild herum sprang und unwillig, meist kehlig maunzend, das Zimmer verließ.

Doch dann: Winter, die Lampe war eingeschaltet. Wir betraten das Zimmer und fanden unser Katerle in merkwürdiger Haltung vor. Er stand mit den Hinterbeinen auf der Couchlehne, die Vorderpfoten an dem komischen Ding. Er bewegte es, die Lichter tanzten. Hielt er den Schirm fest, standen auch die Sterne still. Das Tier beobachtete das alles sehr genau, indem es um sich blickte und wiederholte den Vorgang drei, vier Mal. Seit diesem Test blieb er ungerührt auf seinem jeweiligen Ruheplatz liegen!

Eine Andere Begebenheit lässt ebenfalls auf Gedankengänge schließen.
Paul und ich spielten oft Verstecken. Ich rief den Freund leise und er fand mich stets – mit einer Ausnahme! Ich hatte mich hinter einem Vorhang im Flur versteckt. In der dunklen Nische konnte Paul mich nicht sehen, aber der recht grobmaschige Stoff ließ zu, dass ich das Kerlchen im hellen Flur beobachten konnte. Mein Kumpel lief von einem Versteck zum anderen. Ein paar Mal suchte er überall dort, wo er mich früher gefunden hatte, von Mal zu Mal aufgeregter und miauend. Das tat mir natürlich Leid und so sprach ich ihn an und kam hervor, als er ratlos direkt vor der Nische stand. Er erschrak regelrecht, lief schimpfend fort und sah mich beleidigt an, wenn ich mich ihm näherte. Oh, nein, er tat mir nichts, aber er drehte mir den Hintern zu.

Es wurde Abend, Zeit ins Bett zu gehen. Da, ich hatte nackte Beine, kam er auf mich zugeschossen biss mir ins Bein und züchtigte mich heftig mit ausgefahrenen Krallen beider Vorderpfoten.

Mir machte das nichts aus. Obwohl es eine etwas blutige Angelegenheit war, amüsierte uns die Strafmaßnahme, die Paulchen – unserer Meinung nach mit Bedacht und Verstand – bis zu dem Zeitpunkt aufgeschoben hatte, an dem sie sich am wirkungsvollsten zeigte.

Putzig hinzuzufügen, dass diese Lektion kein Einzelfall blieb! König Paul, der sich schnell mal beleidigt fühlte, wartete seit meinen ersten Schmerzlauten stets mit der Sühne, bis kein Stoff unsere Haut schützend umhüllte.

Wild blieb Paulchen bis zum Unvermeidlichen. Liebkosen durften ihn nach geraumer Zeit lediglich meine Gattin und ich. Außer uns beiden schenkte Paul nur einem einzigen außen stehenden Menschen volles Vertrauen: seinem Tierarzt. Bis zu deren Auszug akzeptierte er unsere zwei Söhne als Mitbewohner; und wenn wir verreisten, ließ er allein meine Schwiegermutter als Pflegepersonal zu.

Unser wunderbarer Freund Paul blieb – trotz Krankheit seit dem sechsten Lebensjahr – 18 Jahre und drei Monate bei uns. Ein stattliches Alter. Seine Eigeninitiative hat neben unserer liebevollen Fürsorge ganz sicher dazu beigetragen.

Ohne wirklich zu leiden schlief er im Schlaf ein.

23. Juni 2010

Ein Brief von Roland

 


◄ Zurück...